Zur Geschichte des Ackerbaus
Die Entdeckung und Kultivierung des Getreides bedeutete eine Revolution in der Entwicklung der Menschheit. Diese sogenannte neolithische Revolution, ein historisch höchst wichtiges Ereignis, spiegelt sich in späteren Jahrtausenden in der Mythologie und Mystik der Völker zurück.
Im alten Ägypten bildete der Getreideanbau von Emmer (Triticum dicoccum) und Gerste (Hordeum vulgare) die Grundlage der Wirtschaft. Daraus wurden die beiden wichtigsten Nahrungsmittel, Brot und Bier, bereitet. Es konnte sogar so viel Getreide produziert werden, dass der Überschuss ins Ausland exportiert wurde. Man glaubte, dass die wilde Gerste, das „erste Getreide“, von der Göttin Isis entdeckt wurde. Sie brachte es dem Volk am Nil und lehrte es, daraus Brot zu backen und Bier zu brauen. Auch der Totengott Osiris war ein Gott des Getreides. Die Gerste war nicht nur mit der Geburt, sondern auch mit der Wiedergeburt assoziiert. Es gab den Brauch, in den neu angelegten Gräbern sogenannte Osirisbetten anzulegen. Dazu wurde aus Erde die Gestalt des wiederauferstehenden Gottes Osiris geformt und mit Gerstenkörnern bestreut. Wenn die Körner keimten, wurde der Tote mit neuem Leben erfüllt.
In Griechenland und Rom galt das Getreide als Geschenk der Göttin Demeter, der „Mutter in der Erde“, oder Ceres. Ovid dichtete in seinen “Metamorphosen“: „Es feierten die frommen Mütter das jährliche Ceresfest, an dem sie, in weiße Kleider gehüllt, Ährengewinde als Erstlingsopfer ihrer Ernte darbringen und neun Nächte lang Venus und männliche Berührung für verboten halten“.
Heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, stehen wir wieder mitten in einer Kultur-Revolution, diesmal einer weltweiten. Auch diesmal werden die Umwälzungen mit Veränderungen in unseren Essgewohnheiten und Nahrungsmöglichkeiten einher gehen. Bevor wir uns dazu Murschid´s Hinweise zu Gemüte führen können, sollten wir seine Vision über die bevorstehende Einheit der Menschheit näher betrachten.
Die Einheit der Menschheit
Wesentlich für den nächsten Schritt in der Entwicklung der Menschheit ist aus Murschid´s Sicht die Einigung zwischen Ost und West. Nur dadurch werden die großen Katastrophen ein Ende finden: „durch die Einheit von Ost und West in Weisheit können wir uns auf einen wirklichen Frieden freuen.“
Der Osten und der Westen werden beim Entstehen dieser Einheit sehr unterschiedliche Beiträge leisten können. Im Westen hat die Menschheit die Fähigkeit zur Uniformität entwickelt. Murshid: „im Westen gibt es mehr Uniformität als im Osten. Zweifellos hat dies dem Westen extrem genützt, allerdings auf Kosten vom individuellen Fortschritt.“
Das Prinzip der Uniformität im Sinne vom Gleichheit für alle wird an dem Beispiel von Microsoft sehr deutlich: Weltweit benutzen die Menschen fast ausschließlich ein und das gleiche Computerprogramm.
Auch auf dem Gebiet von Arbeitsorganisation, wissenschaftlicher Fortschritt und wirtschaftliches Denken hat der Westen dem Osten viel zu bieten.
In der sogenannte Globalisierung werden die Ausdrucksformen der westlichen Kultur auf eine Weltebene gehoben: im Osten übernehmen nach Japan und Korea nun auch die weiteren asiatischen Länder im Eiltempo den westlichen Lebensstil mit Hochhäusern, Handys, Autos und MacDonald. Materieller Reichtum liegt auch für die Völker des Ostens plötzlich in Reichweite.
Murschid hat schon zu Beginn des 20. Jahrhundert diese Entwicklung Anfang des 21. Jahrhunderts vorausgesehen: „Jetzt, dank der modernen Kommunikation, sind der Osten und der Westen näher zusammengebracht worden und dies macht große Hoffnung, dass der Osten und der Westen, welche für ihren Fortschritt von gegenseitigem Austausch und Verständigung abhängig sind, bald zur Einheit finden werden. In der Wirtschaft, in der Politik, in allem können sie eins werden und voneinander profitieren.“
„Der Westen hat viele Dinge verbessert und entwickelt und entdeckt, welche in den Osten gehen sollten.“
Inzwischen ist dieser Teil der Vision von Hazrat Inayat Khan in Erfüllung gegangen. Die „Dinge“ im Sinne von materiellem Fortschritt haben den Osten erreicht.
Das Gegenstück, der Beitrag des Ostens zur Einheit der Menschheit, ist weniger gut sichtbar. Zum Teil hängt das damit zusammen, dass es sich hierbei um einer spirituellen Impuls handelt.
„Und die Erfahrung von denjenigen, die im Osten in die Wälder gingen und in Meditation im Schatten der Bäume saßen, muss in den Westen gebracht werden.“
Wohlgemerkt: Murschid spricht hier von der spirituellen Erfahrung, nicht von geistigem Gedankengut der einen oder anderen östlichen Religionsform.
“Das Leben eines Weisen im Osten wäre, meine ich, außerordentlich befremdlich für einen Europäer, weil die Anerkennung von Heiligkeit in Europa nur unter dem Deckmantel der Religion möglich ist. Im Osten gibt es Heilige und Weise innerhalb und außerhalb der religiösen Institutionen…..Die Heiligen und Weisen manifestieren sich in allen Gestalten und in allen Lebensformen.“
Die Spiritualität im Osten ist deswegen für uns Menschen aus dem Westen so erstaunlich, weil die individuelle Vielfalt schier unendlich ist. So wie wir im Westen ein unerschütterliches Vertrauen in den menschlichen Erfindungsgeist haben, immer wenn es um praktische materiellen Lösungen geht, so hat der Osten eine Flut von spirituellen „Erfindungen“ hervorgebracht.
„Im Osten wurde Religion nicht zu einer Sache die vom Leben getrennt ist, so wie in dem Westen mit dem Geschäft, dem Beruf und anderen Dingen auf der einen Seite und dem Kirchgang an einem Tag in der Woche auf der anderen Seite.“
Die Folge von dieser Haltung war, dass “die Leute im Osten ein Ziel vor Augen hatten und dieses Ziel war, in Berührung mit der tieferen Seite des Lebens zu kommen…..mit der äußeren Welt gab es weniger Kontakt.“
Wie der Westen die äußere Welt erforscht hat, so hat der Osten sich der inneren Welt zugewandt.
Der Westen hat die Grenzen des äußeren Lebens unaufhörlich verschoben. Im Großen sieht man das in der Raumfahrt, im Kleinen in den Bestrebungen, die DNA zu entschlüsseln. Diese Orientierung nach außen hat zu einer Verarmung des inneren Lebens geführt.
Der Osten hat einen genauso reichen Schatz an Forschungsergebnissen. Murschid: „die spezielle Lehre, die aus der Erfahrung derjenigen im Osten, die die Geheimnisse des Lebens erforscht haben, gezogen werden kann, ist die Art und Weise, wie man sich seines eigenen Geistes bewusst werden kann, wie man Geist realisieren kann.“ Diese Orientierung nach Innen hat zu einer Vernachlässigung der materiellen Welt geführt.
Der Osten holt in einem schwindelerregenden Tempo diesen Rückstand nach. Der Westen auch? Schwer einzuschätzen. Autos und Computer kann man zählen. Wie will man geistige Entwicklung messen.
Auf jeden Fall ergibt sich das Bild von einer Menschheit, die sich von zwei Polen heraus auf die Einheit zubewegt. Einerseits der Osten, der vom Westen lernt, die äußere Welt zu erobern. Andererseits der Westen, der vom Osten lernt, die innere Welt zu erobern.
Murschid: „der Osten und der Westen sind wie zwei Hände. Von der Einheit von Ost und West, von ihrem gegenseitigen Verständnis, hängt die große Harmonie und der Frieden der Welt ab.
Murschid sieht nicht nur die Notwendigkeit dieser Einheit. Er kündigt dieses Zusammenwachsen der Menschheit auch an. Im Grunde genommen postuliert er ab sofort die weltumspannende Einheit:
„Es gibt nur Eine Bruderschaft, die Bruderschaft der Menschen, welche die Kinder der Erde vereinigt in der Vaterschaft von Gott.“
In dieser neu-entstehenden Welt-Kultur gilt die kulturelle Erbschaft des Westens: in allen unterschiedlichen Phänomenen der äußeren Welt gilt es letztendlich die Gesetzmäßigkeit zu entdecken. Uniformität in der materiellen Welt. Die Suche nach der Gleichheit.
Gleichzeitig gilt das kulturelle Erbe des Ostens: die ganze Vielfalt des geistigen Lebens ist der Beweis für die Einheit. Diversität in der geistigen Welt. Die Suche nach der Freiheit.
Uniformität + Diversität → Einheit
Allerdings ist diese Einheit, wenn sie funktionieren sollte, mehr als die Summe der beiden Pole. Sie besteht aus drei Bestandteilen: Einheit = Gleichheit + Freiheit + Bruderschaft.
Murschid beschreibt das Prinzip der Dreieinigkeit für die neue Zeit folgendermaßen: „der Sufi versteht, dass das eine Leben, das aus dem inneren Wesen heraus entsteht, sich auf der Oberfläche als Leben der Vielfalt manifestiert; und in dieser Welt der Vielfalt ist der Mensch die feinste Erscheinungsform, weil er in seiner Entwicklung die Einheit des inneren Wesens sogar in der äußerlichen Existenz der Vielfalt realisieren kann. Aber er entwickelt sich zu diesem Ideal, welches der einzige Grund für sein irdisches Erscheinen ist, dadurch, dass er sich mit einem anderen Menschen vereinigt.“
Ob wir Menschen es in unserer Zeit schaffen werden, eine Weltkultur zu errichten, hängt davon ab, ob wir im Stande sein werden, uns mit dem Befinden des Andern zu beschäftigen.
Murschid: „Wenn es überhaupt ein moralisches Prinzip gibt, das von der Sufi-Bewegung gelehrt wird, dann ist es dieses: dass die ganze Menschheit wie ein Körper ist und dass jedes Organ von diesem Körper, das schmerzt oder Probleme bereitet, indirekt dem ganzen Körper Schaden zufügen kann. Und so wie die Gesundheit des ganzen Körpers von der Gesundheit der einzelnen Teilen abhängt, so hängt die Gesundheit der Menschheit von der Gesundheit jeder Nation ab.“
Um der Gesundheit der Menschheit ist es momentan so gesehen nicht allzu gut gestellt. Werden wir Menschen es schaffen, gemeinsam auf dem Planeten Erde zu leben? Murshid lässt hieran keinen Zweifel. Gleichzeitig aber erinnert er uns daran, dass die Menschheit sich nicht immer so schnell und linear entwickelt, wie wir denken:
Wer kann sagen, wie oft der Mensch auf Erde erschienen ist und von der Erde verschwunden ist? Was wir kennen, ist nur eine Geschichte des Planeten. Aber wieviele Planeten existieren? In wievielen Millionen von Jahren wurden wieviele Schöpfungen kreiert und wie viele wieder zurückgezogen? Das einzige, was man sagen kann ist: man kann nicht von Gottes Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sprechen; man kann nur eine Idee davon geben, welche die zentrale Idee aller Aspekte der Wahrheit ist: dass es das einzige Wesen ist, das existierte, das existiert und das existieren wird; und alles was wir sehen sind Seine Erscheinungsweisen.
Beloved, Thou makest me fuller every day.
Thou diggest into my heart deeper than the depths of the earth.
Thou raisest my soul higher than the highest heaven, making me more empty every day and yet fuller.
Thou makest me wider than the ends of the world;
Thou stretchest my two arms across the land and the sea, giving into my enfoldment the East and the West.
Thou changest my flesh into fertile soil;
Thou turnest my blood into streams of water;
Thou kneadest my clay, I know, to make a new universe.
Hunger
Wie bei früheren Umwälzungen in der Menschheitsgeschichte hat die bevorstehende oder wohl schon im Gang befindliche weltweite Umwälzung auch diesmal sehr viel mit Ernährung zu tun.
Es wird erzählt, dass kurz vor dem Ausbruch der französischen Revolution Königin Marie Antoinette darüber informiert wurde, dass die Bevölkerung von Paris hungerte, weil kein Brot zum Essen mehr da war. Ihre Antwort war: „Wenn es denn kein Brot mehr gibt, gib ihnen dann wenigstens Croissants zum Essen!“
Was damals für Paris galt, gilt heute für die Welt.
Uns, die wir jeden Tag mehr als genug zum Essen haben, bereitet das Problem des zu vielen Essens wesentlich mehr Sorgen als das Problem des Hungers.
Noch nie in der Menschheitsgeschichte gab es so viel Hunger auf der Welt wie heute. Wahrscheinlich nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch in Prozenten der Weltbevölkerung. Von nun 7 Milliarden Menschen leidet eine Milliarde Hunger. Womöglich bedeutet das, dass wir statt 10 % unseres Einkommens, wie einmal der Prophet Mohammed als Abgabe für die Bedürftigen postuliert hatte, heute mindestens 14 % (1/7) abgeben sollten.
Warum sollten wir das tun?
Murshid, der Botschafter der Einheit der Menschheit, ist über dieser Frage sehr deutlich: solange Teile der Menschheit leiden, hat die Aufgabe der Bruderschaft noch nicht ins Bewusstsein der Menschheit Fuß gefasst. Wir Menschen sind dann noch nicht soweit, dass wir reif für eine globale Kultur wären.
Wir haben keine Zeit für den Hunger der Mitmenschen. Ich erwische mich manchmal dabei, dass ich Spenden-Aufrufe von Hilfsorganisationen lästig finde und schnell in den Ofen stecke. Das Leiden der anderen stört uns. Es bringt uns aus dem Konzept.
Murshid erzählt zu diesem Thema folgende Geschichte: „Moses bat einmal den Herrgott von Israel auf der Sinai, „O Gott, du hast mich so hoch geehrt, mich zu deinem Botschafter zu machen. Wenn es eine noch größere Ehre gäbe, würde ich meinen, dass es die wäre, dass du zu meiner bescheidenen Bleibe kommen würdest und das Brot an meinem Tisch brechen würdest.“ Die Antwort kam, „Moses, mit viel Vergnügen werden Wir zu deiner Bleibe kommen.“ Moses bereitete ein großes Fest vor und wartete in Spannung au die Ankunft von Gott. Dann kam zufällig ein Bettler bei ihm vorbei und sagte zu Moses, „Moses, ich bin krank und müde und hatte kein Essen für drei Tage und sterbe fast. Bitte gib mir eine Scheibe Brot und rette mein Leben.“ Moses in seinem Eifer, da er doch jeden Moment einen Besuch von Gott erwartete, sagte dem Bettler, „Warte, o Mensch, Du solltest mehr als eine Scheibe bekommen, reichliche und köstliche Teller. Ich erwarte heute Abend einen Gast und wenn er gegangen ist, dann werde ich alles, was übrig ist, dir geben, damit du das mit nach Hause nimmst.“ Der Mann ging wieder, der Zeit verstrich, Gott kam nicht, und Moses war enttäuscht. Am nächsten Tag ging Moses zur Sinai und beklagte sich bitter mit den Worten, „Mein Gott, ich weiß, dass du dein Gelübte nicht brichst, aber welche Sünde habe ich, dein Sklave, begangen, dass du nicht gekommen bist so wie du versprochen hattest?“ Gott sagte zu Moses, „Wir kamen, o Moses, aber leider hast du Uns nicht erkannt. Wer war der Bettler an deiner Tür? War er ein anderer als Wir? Er ist Wir. In allen Vermummungen in der Welt leben Wir und bewegen Wir uns und doch sind Wir weit weg in Unseren ewigen Himmeln.“
Die Ernährung der Menschen wird in eine neue Zeit unser Augenmerk brauchen, wenn wir Frieden in der Welt anstreben. Spiritualität ohne Speisung des Mitmenschens ist hohl. Gegen diesen Hintergrund ist es interessant dass Hazrat Inayat Khan uns in Zira´at eine Konzentration auf den Ackerbau ans Herzen gelegt hat.
Ziraat
Am Ende seines Lebens gründete Hazrat Inayat Khan „Zira´at“, einen speziellen Orden innerhalb der Sufi-Bewegung. Viele Jahre blieb diese Initiative geheim und war nur wenigen Leuten bekannt. Erst in den 70er Jahren wurden die Dokumente einem größeren Kreis zugänglich.
Bis heute wird intern diskutiert und gerätselt, was der eigentliche Sinn von Zira´at sein mag. Die überlieferten Materialien sind komprimiert. Im Wesentlichen bestehen sie in einer Einweihungszeremonie.
Warum war aus Sicht von Murschid diese Ordensgründung notwendig? Es gab doch schon sein Sufi-Orden des Westens als Schule für seine Botschaft: eine Spiritualität für die neue Zeit.
Wie können wir die verschlüsselte Überlieferung denken? Im Wissen, dass es unmöglich ist, Zira´at wirklich in jeder Hinsicht zu ergründen, werde ich versuchen, nachfolgend eine Antwort auf diese Frage zu geben.
Für mich handelt es sich im Zira´at um nichts weniger als um die Gründung einer neuen Weltkultur. Wir haben hier die Skizze eines Leitbildes für die neue Zeit vorliegen. Murschid hinterlässt uns die Vision einer Zukunft, worin der Anbau von Getreide im Zentrum der menschlichen Aktivität stehen wird.
Das wirkt erst einmal sonderbar. Wir leben in einer Kultur, worin fast alle Aktivität sich dahin ausrichtet, sich von der Arbeit auf dem Land zu lösen. Kultur findet in den Städten statt. Loslösung aus den Fesseln des Landlebens, Befreiung aus den Zwängen des Bauernlebens, so könnte man das menschliche Bestreben seit vielen Jahrhunderten zusammenfassen.
Dabei hat das Wort „Kultur“ eigentlich seine Wurzeln in dem lat. Agri-cultura, Eng.: agriculture, das Bebauen des Ackers, Landwirtschaft. Menschliche Kultur ist entstanden in dem Moment, wo wir uns nicht nur als Jäger und Sammler aus der Natur ernähren, sondern bewusst mit der Natur zusammenarbeiten, um unsere Nahrung sicher zu stellen.
Uns Menschen steht nun wieder eine kulturelle Umwälzung ins Haus. So wie im Neolithikum wird der Brennpunkt der menschlichen Aktivität erneut der Anbau von Getreide sein. Der Ideal-Beruf der des Ackerbauers. So zumindest kann man die Vision von Murschid verstehen.
Der Bauer erneut als Vorreiter der Kultur, das wäre eine merkwürdige Wende. Wird ein Bauer heute doch kaum mit Kultur in Verbindung gebracht wird. Bauer sein wird heute selten als eine Ehre erlebt. Im Gegenteil: ein Bauer ist in der allgemeinen Einschätzung eher rückständig, hat keine Bildung und Manieren.
Das Ideal, Bauer zu werden, lebt nur in wenigen jungen Leuten. Auf vielen Bauernhöfen gibt es denn auch keinen Nachfolger. Die Jüngeren wollen nicht in die Fußspuren der Eltern treten und den Hof weiter führen. Wirtschaftlich gibt es für diese Tendenz eine mächtige Triebfeder: die Höfe müssen größer werden um ein Einkommen zu generieren. So wütet nun schon seit 50 Jahren das sogenannte Bauernsterben. 9 von 10 europäische Bauern haben ihren Hof inzwischen verlassen.
Die Bauern, die geblieben sind, überlassen immer mehr Aspekte der bäuerlichen Arbeit Lohnunternehmen. Es lohnt sich nicht mehr, selber für alle Bodenbearbeitungsschritte Maschinen anzuschaffen. Die Ernte wird von gewaltigen Mähdreschern eingefahren, die für den einzelnen Bauer unbezahlbar wären. Trocknung, Reinigung und Lagerung des Getreides werden fremdvergeben.
Die heutige Landwirtschaft wird auch in vielen anderen Hinsichten von einer immer weiter fortschreitenden Entkopplung aus den natürlichen Verhältnissen geprägt.
Schon lange hat der Bauernhof sich aus der Abhängigkeit der Energieversorgung von der eigenen Ernte herausgelöst. Wo früher die Pferde die Energie für die Maschinen lieferten und das Land die Energie für die Pferde, werden heute die Traktoren mit Diesel angetrieben.
Früher wurde ein Boden mit Dünger versorgt, der auf dem Hof entstand. Heute wird mit chemischem Dünger gearbeitet, welche unter Anwendung von gewaltigen Mengen Energie aus Öl, Gas oder Kernkraft in der Fabrik entsteht.
Während in der Vergangenheit das Saatgut vor allem aus eigenem Nachbau stammte und so regionale Sorten, den klimatischen Umstanden angepasst, weiter entwickelt wurden, wird heute Saatgut von international agierenden Saatgutfirmen unter Anwendung von Gentechnik für alle Standorte geeignet gemacht.
Die Arbeitszeiten verschieben sich. Die modernen Maschinen sind nicht mehr vom Tageslicht abhängig. Es gibt zunehmend Satelliten-gesteuerte landwirtschaftliche Geräte, die ohne Fahrer auskommen und Tag und Nacht weiter arbeiten können.
Die Jahreszeiten verlieren ihre Bedeutung für die verschiedenen Arbeitsvorgänge in der Landwirtschaft. Bei der Kartoffelernte muss man nicht auf eine natürliche Vertrocknung des Laubes warten. Die Pflanzen werden schlichtweg tot gespritzt.
Der richtige Moment für das Pflügen muss nicht länger abgewartet werden. Die modernen Maschinen sind weniger abhängig von Trockenperioden. Außerdem gehen Bauern dazu über, gar nicht mehr zu pflügen. Mit chemischen Mitteln werden Unkräuter viel effektiver bekämpft.
Dass der Boden bei solchen Maschinen- und Spritzeinsätzen enorme Schäden davon trägt, scheint zunächst zweiträngig. Die Landwirtschaft hat sich ein gutes Stück von dem Boden emanzipiert. Ein extremes Beispiel sind Tomaten, die in Gewächshäuser in mehreren Etagen auf Steinwolle wachsen.
Weltweit verschwinden landwirtschaftliche Nutzflächen in rasendem Tempo. Besiedlung und Straßenbau gehen in Europa fast immer auf Kosten der besten Äcker.
Die Einbettung des Hofes in ein ökologisches Gefüge ist verloren gegangen. Für die Bekämpfung von Läusen braucht es keine Vögel mehr. Von daher verlieren Hecken, Buschen usw. an wirtschaftlichem Interesse.
Der Mensch in der westlichen Welt hat sich im Laufe des 20. Jahrhundert fast vollständig von der Landwirtschaft emanzipiert. In anderen Teilen der Welt wird diese Entwicklung in einem rasanten Tempo nachgeholt. Die Bodenhaftung wird global überwunden. Das ist das Ergebnis von Jahrhunderte-, oder Jahrtausende-dauernde Anstrengung und Kreativität. Die Zielsetzung, uns aus den natürlichen Zwängen zu emanzipieren, hat uns Menschen bisher voran getrieben.
Wo steht die Menschheit, wenn dieser Prozess zu Ende gegangen ist? Wir können nur Rätsel- raten. Manche träumen davon, auf anderen Planeten eine neue Existenz auf zu bauen. Fest steht, dass die Menschheit auf dieser Art nicht auf den Planeten Erde weiter existieren können wirdd. Das Klima zeigt es uns. Wir haben unsere natürlichen Grundlage überstrapaziert.
Hazrat Inayat Khan hat schon Anfang des 20. Jahrhunderts vor dieser Entwicklung eindringlich gewarnt. Seine Warnungen habe ich im Kapitel „Gefahr“ in „ das heilige Buch der Natur“ dargestellt. Seiner Meinung nach geht ein ganzes Zeitalter zu Ende. Das Dharma der vorherrschenden Kultur, so sagt er, ist in Verfall und es wird eine neue Zeit mit anderen Paradigmen kommen.
Am Ende seines Wirkens im Westen hat er dann im Zira´at den Samen für eine neue Weltkultur gelegt. Im Zentrum wird eine Landwirtschaft stehen, die sich neue Werte zuwendet und dadurch eine neue Wertschätzung wiederfährt. Lasst uns schauen, welche die Ecksteine dieser neuen „Agrar-Kultur“ in der Zira´at-Vision von Murschid sind.
Die 10 Säulen einer neuen Agrar-Kultur
1. Der Eigentümer des Hofes ist Gott.
Sufis nennen Gott auch den „Einen“. Es ist ein Wesen, das alles umfasst, gleichzeitig männlich und weiblich ist und sowohl transzendente als immanente Seiten hat. Man kann es auch „das Leben“ oder „die Natur“ nennen. In der neuen Kultur wird die künstliche Spaltung zwischen Mensch und Natur aufgehoben. Der einzelne Bauer hat nicht mehr das absolute Sagen über seinen Hof. Er hat den Hof als Lehnsmann von der Gesamtheit übertragen bekommen und wird in Abstimmung mit der Ganzheit seinen Hof bewirtschaften. Mit Ganzheit wird die Gemeinschaft der involvierten Menschen und auch die der gesamten Natur gemeint. Soziale Ökologie in allen Aspekten steht im Zentrum des Geschehens.
2. Diejenigen die auf dem Hof arbeiten, orientieren sich nach dem Bauer mit Erfahrung.
In der heutigen Landwirtschaft spielt Erfahrung keine Rolle. Neue Vorgehensweisen werden eingeführt, ohne eine Ahnung zu haben, welche Konsequenzen längerfristig zu erwarten sind. In der neuen Agrar-Kultur braucht es eine Erneuerung der Orientierung. Am meisten braucht es Erfahrung mit der Einstimmung auf die Ganzheit. Ökologisches Handeln zu lernen ist das Haupt-Training der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte.
3. „Was ist die Religion des Bauers? Seine Arbeit.“
Die uralte Spaltung zwischen Religion und täglichem Leben wird aufgehoben. Arbeit in der Woche und Religion am Sonntag als maßgeblicher Aufteilung in der westlichen Kultur verliert seine Gültigkeit. Bisher hat die Religion die Menschen aus ihrem täglichen Leben herausgezogen und andersrum hat das materielle Leben die Energie von der Religion weggesaugt. Die Kluft zwischen heilig und profan gilt nicht für die Landwirtschaft der neuen Zeit.
4. „Was ist die Leistung des Bauers? Eine erfolgreiche Ernte.“
Dieser Grundsatz in Zira´at mag selbstverständlich klingen. Leider ist er aber in der modernen Landwirtschaft nicht gegeben. Nahrungsmittelproduktion verschwindet im Hintergrund. Immer wichtiger werden ökonomische Faktoren. Es kann heute durchaus profitabler sein, seine Felder still zu legen als sie zu bewirtschaften. Auch eine Hinwendung zur Produktion von Gas, Benzin und Elektrizität prägt die heutige Landwirtschaft.
Murshid erneuert ein 4000 Jahr altes Gebot an die Menschheit:
„Gehe, bebaue dein Land.
Baue Nahrung zum Essen an.
Menschheit, du bist dazu bestimmt, Überfluss zu kennen.“
(Babylonischer Tontafel, 2100 v. Chr.)
Ackerbau um die Nahrungsversorgung der Menschheit sicher zu stellen und um Hunger zu verhindern, ist das Paradigma der neuen Zeit.
5. Der Schwerpunkt der Landwirtschaft der neuen Zeit liegt im Getreide-Anbau.
In der heutigen Landwirtschaft gibt es eine globale Entwicklung weg vom Getreide als Konsumartikel, hin zu Fleischproduktion. Dabei verkommt der Ackerbau zum Lieferant von Viehfutter.
Für Murschid wird sich diese Entwicklung in ihr Gegenteil wenden: „Es ist immer schade, wenn man Tiere für seine eigene Ernährung töten muss. Lehrer aller Zeiten erlaubten dies bei Hunger. Während einer Hungersnot stand nicht genug Getreide zur Verfügung und deswegen wurde Fleisch als Nahrung erlaubt. Es ist nur zu diesem Zweck erlaubt.“
Inzwischen wissen wir, dass Fleischproduktion in dem Ausmaß, wie sie heute global betrieben wird, nicht nur nicht moralisch-ethisch sondern auch nicht ökologisch zu verantworten ist. Die Klimaerwärmung wird wesentlich durch Viehzucht angeheizt.
6. Der Bauer beschäftigt sich mit allen Arbeitsvorgängen des Ackerbaus
Im Gegensatz zur Spezialisierungstendenz in der modernen Landwirtschaft ist der Bauer der neuen Zeit für jeden Arbeitsschritt zuständig. Murschid unterscheidet 6 Stufen: Pflügen, Eggen, Säen, Ernten, Dreschen, Lagern. Diese 6 machen zusammen den Beruf des Ackerbauers aus und werden in der neuen Zeit integrale Bestandteile des Geschehens auf dem Bauernhof sein. Es wird nicht möglich sein, gut zu Ackern, wenn nicht der gesamte Arbeitsprozess im Auge behalten wird. Der Bauer wird bei den aufeinander folgenden Arbeitsschritten einen inneren Prozess durchlaufen und jeder der Arbeitsstufen bringt ein anderes Bewusstsein mit sich: beim Pflügen steht die Anstrengung im Vordergrund, beim Eggen die Mut, beim Sähen die Hoffnung, beim Ernten die Freude, beim Dreschen die Kraft und beim Lagern die Dankbarkeit. Alles seelische Haltungen, die zusammen die Spiritualität der neuen Zeit ausmachen.
7. Der Pflanzenbau gehorcht den Gesetzen der 5 Elemente.
Nicht nur die Pflanzen gehorchen die Impulse der Elemente, auch der Bauer fügt sich denen. Nur der, der die Elemente beachtet, kann ein guter Landwirt sein.
Das Augenmerk liegt auf der inneren Haltung des Bauers: gegenüber dem Erde-Element Bescheidenheit, gegenüber Wasser Bereitwilligkeit, gegenüber Feuer ungeteilte Aufmerksamkeit, gegenüber Luft Fröhlichkeit, beim Äther gibt der Bauer seinen Widerstand vollständig auf.
Es entsteht das Bild eines inneren Schulungsweges, den der Landwirt geht, wenn er sich mit vollem Einsatz dem Zusammenspiel der Elemente im ökologischen Getreidebau widmet.
8. „Gutes Saatgut ist wertvoller als Perlen“
In der modernen Landwirtschaft hat ein Bauer die Macht über das Saatgut fast vollständig verloren. Genmanipuliertes Saatgut ist patentiert und somit steht es einem Bauer nur frei, jedes Jahr neues zu kaufen. Was gutes Saatgut ist, wird nicht vom Landwirt, sondern von der Industrie entschieden und zwar nach Gesichtspunkten der Gewinnmaximierung, nicht nach landwirtschaftlichen Gesichtspunkten. Es mag sein, dass der Verlust der Rassenvielfalt bei den Getreide-Sorten etwas mehr ins Bewusstsein rückt. Es reicht aber nicht aus, die aussterbenden Rassen zu sammeln und in einem Lager am Nordpol zu speichern.
In der neuen Zeit wird die Sorge um das Saatgut eine größere Rolle spielen bei der Absicherung gegen Armut als das Anhäufen von persönlichen Wertgegenständen.
Murschid: „ein erfahrener Bauer kann mehr Reichtum generieren mit seiner Saat als ein Banker mit dem Zins, welchen er auf sein Geld bekommt.“
Fürwahr eine visionäre Sicht auf die bevorstehenden globalen Entwicklungen. Heute erleben wir tatsächlich einen erdrutschartigen Fall des Ansehens der Banken. Investieren an der Börse hat seine Attraktivität verloren. Wird tatsächlich, so wie Murschid voraussieht, der Ackerbau ins Zentrum des menschlichen Wirtschaftens gerückt? Und wird der Stellenwert der landwirtschaftlichen Tätigkeit in der sich ankündigenden neuen Zeit aufgewertet werden?
9. „Fruchtbarer Boden ist wertvoller als Gold“
Wieder eine Ankündigung einer Umkehrung der Werte. Während heute ohne viel Bedenken fruchtbares Ackerland der industriellen Entwicklung geopfert wird, da dort die Wertschöpfung um ein Vielfaches höher liegt als in der Landwirtschaft, sieht Murschid eine Zeit voraus, worin wir zur Einsicht geraten, dass Ackerland das kostbarste ist, das wir besitzen. Es ist zu etwas Besonderem geworden, was vorher zu vernachlässigen war.
Bodenfruchtbarkeit ist übrigens, laut Murschid, das Ergebnis von menschlicher Pflege: „was macht den Boden fruchtbar? Bewirtschaftung.“
Die Gründerväter und -mütter der biologischen Landwirtschaft haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts alle, jede(r) auf seine/ihre Weise, darauf aufmerksam gemacht, dass die moderne Landwirtschaft die Bodenfruchtbarkeit vernachlässigt, wenn nicht sogar vernichtet. Fruchtbarkeit entsteht durch Nahrung und Pflege des Bodens. Nur ein gesunder Boden kann gesunde Pflanzen hervorbringen.
Bezeichnend für unsere heutige Einstellung ist die vielverbreitete Idee, dass Pflanzen in Regenzeiten besser wachsen. Murschid wusste schon, was die Wissenschaft heute belegt hat: „was lässt die Feldfrüchte gedeihen? Die Sonne.“
Pflanzen wachsen besser in den trockenen Perioden. Allerdings nur, wenn der Boden in der Lage ist, die Pflanzen kontinuierlich mit Wasser zu versorgen. Und darauf hat ein Bauer Einfluss. Er muss dafür sorgen, dass der Boden möglichst gut in der Lage ist, Wasser zu speichern. In der biologischen Landwirtschaft wird deswegen ein hoher Wert auf Humusbildung gelegt. Humus erhöht die Fähigkeit des Bodens, Wasser aufzunehmen, festzuhalten und nach und nach abzugeben.
Ein Bauer gießt sein Land, nicht seine Pflanzen. Murschid: „was nährt das Land? Wasser.“
10. Die Landwirtschaft der neuen Zeit wird in Einklang mit dem Tages- und Mondrhythmus betrieben
Murschid gibt für die verschiedenen Tätigkeiten in der Landwirtschaft unterschiedliche Tageszeiten an. Auch gibt er den Hinweis, dass ein Bauer im Einklang mit dem Mondrhythmus arbeiten sollte.
Wo die moderne Landwirtschaft sich immer mehr von der Tageszeit losgesagt hat und mit riesigen Scheinwerfern genauso gut in der Nacht arbeiten kann, entdeckt der Landwirt in der neuen Zeit, dass für jede Tätigkeit eine andere Tages- und Nachtzeit vorteilhaft ist. Er bindet sich ein in dem Tagesrhythmus, um dadurch, dass er am richtigen Moment das Richtige tut, Energie zu gewinnen.
Auch das Wissen um den Einfluss des Mondes auf die Phasen des Wachstums macht er sich zu nutzen. Seit Murschids Ankündigung im Zira´at hat eine wissenschaftliche Forscherin wie Maria Thun nachgewiesen, dass Pflanzen, die am richtigen Mondzeitpunkt gepflanzt oder gepflegt werden, besser gedeihen.
Die Spiritualität der neuen Zeit
Das Bild, das Murschid uns in Zira´at über die kommende Spiritualität vermittelt, ist in vielerlei Hinsicht überraschend. Wo Spiritualität in der alten Welt mit dem Jenseits und mit einem sich von der Welt abwenden verbunden wird, steht in der Spiritualität der neuen Welt Arbeit in der Welt im Mittelpunkt, und zwar nicht als Strafe (Verbannung aus dem Paradies), sondern als Erfüllung. Es geht nicht um eine einseitige Betonung der Aktivität. Das würde Arbeitssüchtigkeit mit sich bringen. In der Tätigkeit des Bauers halten sich Geist und Körper im Gleichgewicht. Dadurch, dass der Bauer sich geistig und körperlich dem Getreideanbau widmet und zwar aus freien Stücken, regelmäßig und mit voller Hingabe, wird er dem Sinn der Lebens oder dem Ziel seiner Existenz gerecht und findet höchste Erfüllung. Murschid: „Die Arbeit seiner Hände wird gesegnet sein. In der Einsamkeit seiner Arbeit wird er sich nicht alleine fühlen, weil er in seiner Seele das „Lied des Wiederkehrs“ hört. Gesegnet ist derjenige, der so das Feld vorbereitet. Wahrlich, seine Füße werden das Pfad der Weisheit beschreiten.“
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