Seite 4 - Die Operationalisierung von Ziraat - Firos Holterman ten Hove

Die Erde ist kein mechanistisches Instrument, das nach unseren Launen und für unseren Profit manipuliert werden kann. Vielmehr stellt sie ein empfindliches und bewusstes Wesen dar, ausgestattet mit ihrem eigenen Willen und Gefühlen und Neigungen. Als Mit-Lebewesen steht sie in Wechselbeziehung mit uns Menschen. Der Magnetismus der menschlichen Berührung fördert das Wachstum der Pflanzen auf ihrem Boden (dies ist die Bedeutung des „grünen Daumens“). Ihr Magnetismus wiederum bringt Menschen zum Blühen, regeneriert verschlissenes und abgenutztes Körpergewebe und gibt dem Denken neuen Glanz.

(Pir Vilayat Inayat Khan, The Message, vol 7 no 5, May 1981)

 

Klarer kann es wohl nicht gesagt werden: die Erde ist eine dem Menschen ebenbürtige Person mit Bewusstsein, Empfinden, Charakter und Ziele. Und unsere Beziehung zu dieser Person verändert sich. Wie die Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen bestätigen, geht das Holozän zu Ende. Ein ruhiges Zeitalter von ca 10.000 Jahren wird abgelöst durch das Anthropozän, worin die gutmütige „Mutter“-Erde mutiert zu einer unberechenbaren, aber faszinierenden „Partnerin“ - Erde. Pir Vilayat war auch hier ein Visionär. Er beschreibt die neue Beziehung zwischen Mensch und Erde als ein Geben und Nehmen und als gegenseitige Befruchtung. Es geht nicht länger um eine Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Eine ebenbürtige Beziehungsgestaltung ist angesagt. Die Erde braucht uns: wir sind aufgefordert, unseren Magnetismus zu pflegen und zu erhöhen, damit die Pflanzen wachsen können. Die verschiedenen Heilmethoden aus unserem Orden sind in einem zukünftigen Landbau gefragt. Mit der heilenden Kraft unserer Hände, unseres Blickes, unserer Herzen und Gedanken werden wir den Stress, welche die Pflanzen durch die Klimaschwankungen ausgesetzt werden, lindern können. Und umgekehrt brauchen wir die unberührte Natur, damit wir unser Magnetismus wieder aufladen können.

 

Im erhobenen Bewusstsein heiligen wir die Erde wie die Hierophanten und Schamanen dies seit Anfang der Zeiten getan haben. Wenn wir mit ihrer Seele kommunizieren, heiligt sie uns, macht sie uns ganz und somit heilig und gesund.

Wir müssen wissen, wie mit ihr zu kommunizieren, und erfassen, was „durchscheint durch dem was erscheint“ (wie die Sufis sagen). Oder, wie die Zoroastrier, ihre Seele, derer Körper das Wasser des Flusses ist, um Zustimmung fragen, in ihr zu baden. Frag den Boden, den Körper des Erzengels der Erde, um Zustimmung für das Anbauen und Verfügen über ihrer Erzeugnisse. Mach ein Vertrag des gegenseitigen Respekts mit ihr, wie die Landbewohner in Süd-Indien mit den Kobras machen. Die Menschen versprechen, die Kobras nicht zu töten und die Kobras unterlassen das Töten von Menschen; und es funktioniert!

(Pir Vilayat Inayat Khan)

 

Hierophanten sind die griechische Hohepriester der Mysterien-Schulen. Der Begriff bedeutet: die, die das Heilige erscheinen lassen, ans Licht bringen, enthüllen.

Das Unsichtbare wird sichtbar, das Unhörbare hörbar, das Ambrosia wird geschmeckt, die Haut der Geliebte wird berührt. Vielmehr als um einer Schau geht es hier um einer Erfahrung mit allen Sinnen. Murshid hat gelehrt, dass Erleuchtung stattfinden kann, wenn alle Sinneswahrnehmungen zusammenfallen. Pir Vilayat hat in diesem Bezug gerne von Ektase gesprochen. Geht es hier um ein inneres Erleben? Nicht nur, es geht um ein Erleben zwischen Seelen. Es geht um Kommunion zwischen Erde und Mensch. Es geht um Tantra zwischen Bauer und Feld. Diese Kommunion kann vom Bauer aufgebaut werden, dadurch dass er mit seinem Gegenüber kommuniziert und Vereinbarungen trifft: „wenn Du …, dann werde ich …“ Und andersherum. Eine aufregende Perspektive auf eine völlig neue Art des Bauerntums. Aber trauen wir uns das zu? Können wir daran glauben?

 

Pir Vilayat fordert uns mit dem Beispiel der Kobras heraus. Es ist nicht als eine nette Geschichte aus tausend und einer Nacht gemeint. Er ermuntert uns, es aus zu probieren. Lasst uns unsere praktischen Erfahrungen austauschen, damit unsere Zuversicht wachsen kann! Ich werde im nächsten Gärtner-Jahr diese Methode mit den Wühlmäusen ausprobieren. Bisher habe ich ohne viel Erfolg fallen gesetzt. Dieses Jahr hatten die Tierchen mein Feld mit roten Beeten ruiniert. Gerne würde ich diesen Versuch in einer Gruppe unternehmen. Wer hat Lust, mit zu machen?

 

Der Boden lässt uns gerne ihre Produkte zuteil werden, vorausgesetzt wir geben einen Teil zurück im Form von Kompost oder organischem Abfall oder sogar durch Meeresalgen.

(Pir Vilayat Inayat Khan)

 

Das Wörtchen „gerne“ hat es wirklich in sich. Irgendwie haben wir Menschen völlig vergessen, dass die Erde uns gerne ernährt. Das Vertrauen, rechtzeitig und befriedigend gefüttert zu werden, ist uns abhandengekommen. Wir meinen, wir müssen die Erde zwingen, uns zu erhalten. Wahrscheinlich kennen wenigen den Vortrag, welche Murshid über Kompost gehalten hat. Für den Prozess, welche der moderne Bio-Gärtner Kompostierung nennt, benutzt er zwei Begriffe: „Dekompostieren“ für das Auseinanderfallens eines Körpers, und „Kompostieren“ für das Zusammensetzen eines Körpers. Er sagt: „das Kompostieren und Dekompostieren des physischen Körpers bereitet einen bestimmten Genuss“.

 

Das ist eine Schlüssel-Aussage: Essen und Gegessen-werden gehen beide mit Genuss einher. Eine Pflanze wächst dadurch, dass sie mit den Wurzeln den Boden so aufbereitet, dass die einzelnen Wirkstoffe, welche diese spezifische Pflanze braucht, freigesetzt werden. Der Boden wird so zu sagen “dekompostiert”, zersetzt, damit die Pflanze zusammengesetzt, “kompostiert” werden kann. Und andersherum funktioniert es genauso: bei der Dekompostierung der Pflanze am Ende ihres Lebens profitiert der Boden in ihrer Kompostierung.

 

Das erklärt, wie der Bauer dazu beitragen kann, dass der Boden uns “gerne” ihre Produkte zuteil werden lässt. Und zwar dadurch, dass er ein Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen schafft. Der Boden freut sich, zersetzt zu werden, damit Pflanzen wachsen können. Die Pflanzen freuen sich, zersetzt zu werden, damit der Boden sich aufbauen kann. Der Bauer kann diese Prozesse bewusst fördern, indem er beide ins Zentrum seiner Aktivität rückt. Stellen Sie sich vor: der Komposthaufen gleich neben den Karotten und nicht länger in einer versteckten Ecke. Und außerdem: stellen Sie sich vor, welchen Genuss es dem Bauer bereiten kann, von seiner Arbeit absorbiert zu werden! Und mehr noch: was für ein Genuss, eine Karotte zu verspeisen, die in ihrer Entstehung den Genuss von Boden und Bauer hat erfahren dürfen, sich für sie ein zu setzen! Murshid: “ es gibt ein Prozess von Bedecken und Entdecken. Die Seele wirft ihre Hülle auf der gleichen Ebene ab, wo sie sie ausgeliehen hatte, wenn sie sie nicht mehr braucht. Und was wird dann aus diesen Körpern? Irdische Körper sind aus physischen Atomen zusammengestellt, und so wird alles, was zusammengestellt wurden, zersetzt und kehrt zu seinem eigenen Element zurück: Atem zur Luft, Hitze zur Feuer, Flüssiges zur Wasser, und Materie zur Erde…. Trotz den unterschiedlichen Arten, wie der Körper augenscheinlich absorbiert wird – verschiedene Insekten können es aufessen, Vögel können es verspeisen, wilde Tiere zerreißen es, oder es wird von einem Fisch verschlungen- kann er mit der Zeit in Erde verwandelt werden, oder benutzt werden um eine Pflanze oder einen Baum zu nähren...”

 

In dem Sufi-Praxis des Dhikrs kann der Ziraat-Bauer sich mit diesen Prozessen von Leben und Sterben vertraut machen.

 

Das Geheimnis welches eine Kommunikation mit den Natur-Geister in Gang setzt ist die Invokation, eine uralte Praxis. Es bedeutet, sich in die Klang-Signatur jedes Wesens oder Archetyps ein zu loggen und dabei einen einfühlsamen Respekt für die Gesetze und Prinzipien, welche sie vertreten und eine verständnisvolle Berücksichtigung ihrer Wünsche an den Tag zu legen. Luther Burbank würdigte diese Wünsche dadurch, dass er seine Pflanzen dazu ermutigte nach ihrer natürlicher Neigung zu wachsen, statt sie dazu zu zwingen, dem menschlichen Willen zu gehorchen.

(Pir Vilayat Inayat Khan)