Seite 3 - Klimawandel - Pir Zia Inayat-Khan
Beim Schließen der Augen, wozu ich dich jetzt einlade, kannst du die Erde unter dir als eine feste Tatsache fühlen, die Grundlage deines Lebens, immer da unter den Füßen, undurchsichtig und dicht, fruchtbar, tief im Inneren ist jene Realität, die die Meder die Zentralsonne nennen, den Kern der Erde, von dem aus sich der Erdmagnetismus ausbreitet. Verwurzle deine Füße in der Erde, verwurzle dein Steißbein in der Erde. Und auf diese Weise wirst du beim Betreten des Waldes mit der Waldflora in Einklang gebracht. Unter der Erde breiten sich die Wurzeln der Bäume aus, überlappen sich und umgeben sich mit Pilzen, Myzel. Diese Pilzstränge, die von den Wurzeln der Bäume aus Netze weben, durch die die Bäume miteinander kommunizieren, sich gegenseitig Nahrung zusenden, dem Boden Nährstoffe entnehmen und die Pilze mit Zucker ernähren – dieses Netz der Verbundenheit unter dem Waldboden, im Urwald und in allen Wäldern. Uralte Wälder, die mit spektakulärer Geschwindigkeit gefällt werden, während diese Netze, die unterirdischen Netze, aufgerissen werden. Ihre Ausdauer ist dort eine Symbiose, wo sie erhalten wird. Wo sie gepflegt wird, gibt es eine genetische Diversitäts-Symbiose, eine Gemeinschaft, eine Lebensgemeinschaft. Und im eigenen Steißbein, da ist die Latifa Qalbiya, da ist das Wurzelzentrum, das der eigenen physischen Natur entspricht – verbunden mit anderen physischen Wesen, eingebettet in die Erde, aus Lehm, Wasser, Luft. So besteht eine Symmetrie zwischen der Empfindung an der Wurzel der Wirbelsäule, diesem verwurzelten Bewusstsein und den miteinander verbundenen Wurzeln der Bäume im Wald, die tief in der Erde, miteinander verbunden, ineinander übergehen.
Wenn du höher steigst, kommst du zum Bauch, Latifa Nafsia, dem Bauchzentrum, direkt unterhalb des Nabels, das mit dem Nafs, dem Selbst in Verbindung gebracht wird, welches der Nafs ul-ammaarah sein kann, das aggressive selbstsüchtige Selbst, oder es kann ein Selbst sein, das gereift ist, das weich geworden ist, das geöffnet ist. Im Wald steigen aus den Wurzeln Stämme empor. Hier ist ein Selbst. Jeder Baum ist mit den anderen Bäumen verbunden, aber eine Einheit für sich selbst, mit einem eigenen zentralen Stamm, seinen eigenen besonderen Leben, wie es jeder von uns hat. Ein Leben, das nur wir leben können.
Wenn du dann höher steigst, kommst du zu der Brust. Die Mitte der Brust ist die Latifa Siriya. Man ist noch nicht ganz oben angekommen, unten ist die dunkle chthonische Erde, oben das Licht des Himmels. Hier in der Brust haben wir das Unterholz des Waldes erreicht, das gesprenkelte Licht, in dem die Setzlinge gedeihen. Tiere springen von Ast zu Ast in dieser mittleren Zone zwischen der Dichte der Erde und der Transparenz des Raumes, zwischen dem hellen Licht und der feucht-dunklen fruchtbaren Erde, dieser gesprenkelten Welt der Kontraste. Und all die Inhalte offenbaren in diesem Zusammenhang eine sich entfaltende Erzählung: die Geschichte des Waldes.
Aber steige noch höher, und du steigst mit den höchsten Bäumen des Waldes. Und steige hinauf in das Kronendach, wo die hoch ragenden Bäume ihre Kronen erreichen. Diese prächtigen Gipfeln des pflanzlichen Lebens, die bis in den Himmel reichen. Jedes Blatt ein Gefäß für das Sonnenlicht, welches das Sonnenlicht erwartet und aus dem Wald in Richtung Himmel aufsteigt. Und die Zweige und die Blätter kommen einander nahe, aber es gibt da etwas, das man “Kronenschüchternheit” nennt, sie gehen nicht ineinander über, es bleibt immer eine kleine Lücke. Anstatt ineinander zu gehen, wenden sie sich alle gleichzeitig demselben fallenden Licht zu und lassen dabei genau den nötigen Raum zwischen ihnen. Hier in der Latifa Khafiya, im dritten Auge, ist die Baumkrone, diese hohe grüne Zone am oberen Ende des Waldes, mit Affen und Schmetterlingen.
Aber wenn du noch weiter gehen würdest, würdest du die Krone des Kopfes, die Fontanelle, den Scheitelpunkt des Körpers erreichen, der an die höchste Schicht des Waldes über das Kronendach hinausragend erinnert. Das sind Laubbäume, die bis in den Himmel ragen, möglichst hoch, und die Elemente herausfordern. Sie werden in das intensivste Sonnenlicht getaucht und vom Wind hin und her geschwungen. Der Regen schlägt auf sie ein, aber sie haben die intensivste, weiteste Dimension des Lebens erreicht (man hört den Navi: Angekommen!). Sie sind angekommen. Dort rasten die Adler. Aber diese hohen Gipfel bleiben in der Erde verwurzelt. Durch die Bewegung der Nahrung, durch Xylem und Phloem des Stammes, werden Nährstoffe vom Baum aufgenommen, die durch die Pilze gefördert werden. Es werden Nährstoffe aus dem Boden gezogen und in die Blätter und das Licht des Himmels hochgehoben, das Sonnenlicht wird als Zucker, der die Wurzeln nährt, nach unten gezogen. Dieser gesamte Prozess veranschaulicht, symbolisiert den inneren Zustand unseres Seins. Verwurzelt in der physischen Manifestation der Materie, verwurzelt in dieser handfesten Erde und gleichzeitig in den obersten Ebenen unseres Seins, die ewige Nahrung aus dem himmlischen Licht, aus der Emanation des göttlichen Wesens beziehend.
Diejenigen, die die Wälder wiederherstellen werden, diejenigen, die das Land schützen werden, diejenigen, die die Erde begrünen werden, werden immer diejenigen sein, deren Wurzeln tief in die Erde reichen und deren Kronen hoch in
den Himmel ragen. Diejenigen, die wissen, dass das Materielle die Manifestation des Geistigen ist und unsere Aufgabe kennen, kennen unseren Auftrag, im Dienst der Schöpfung Gottes, der Entfaltung dieser Schöpfung, zu stehen. Und so die Babys, die Kinder und ihre Kinder, so möge dies ihr Vermächtnis sein, damit dies das sein möge, was wir praktizieren, was wir weitergeben, die dem Menschen bekannte ureigene Weisheit der Erde, in Demut wandelnd, von der fernen Vergangenheit in die ferne Zukunft sehend, geleitet von der Offenbarung, die die Propheten gebracht haben, immer treu zu Gott. Mit dieser Absicht wollen wir nun mit dem Gebet Nayaz schließen: Geliebter Herr, allmächtiger Gott! Durch die Strahlen der Sonne, durch die Wellen der Luft, durch das alldurchdringende Leben im Raum reinige und belebe mich neu, und ich bitte, heile mir Körper, Herz und Seele. Amen.
Aus dem Englischen übersetzt von Lejla Tasnim Rechsteiner