Höchste Zeit für Sufis in der Landwirtschaft!

Die Hintergründe

 

Gut 40% aller Treibhausgasemissionen werden direkt oder indirekt durch unsere Agrarpraxis und Lebensmittelproduktion verursacht. 

Als in 1919 (1) die Frage an Hazrat Inayat Khan herangetragen wurde, welche Impulse der universale Sufismus für die Landwirtschaft setzen kann, konnte kaum jemand ahnen, welche Formen die menschliche Nahrungs-Beschaffung in einer globalisierten Welt annehmen würde.

Damals waren 40% der west-Europäischen Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt. Kunstdünger und Mechanisierung waren auf dem Weg zum Erfolg; nur vereinzelte visionäre Bauern trafen sich, um die Gefahren dieser Entwicklung zu diskutieren. Biodynamische Landwirtschaft wurde zum Beispiel 1924 gegründet. (2)

Heute sind noch 2 % der Bevölkerung von Deutschland in der Landwirtschaft tätig. In hundert Jahren entwickelten wir eine industrielle urbane Kultur mit verschwindenden Verbindungen zum “Boden” oder zur “Nahrungsaufbereitung”.

Weltweit ist immer noch ein Drittel der Menschheit im Landbau beschäftigt; aber die Entwicklung, welche von der globalisierten Agrar-Industrie vorangetrieben wird, beinhaltet ein weiteres weltweites Bauernsterben, sei es durch Tötung oder Vertreibung der Landbevölkerung, sei es durch Marktmechanismen, welche dem traditionellen Landbau das Aus bereiten.

Diese Entwicklung wird in unserer Gesellschaft nicht fokussiert. Unter dem Begriff “Strukturwandel” wird das Bedrängnis des Kleinbauerntums als Notwendigkeit angesehen. Nach wie vor herrscht als Zukunftsvision in der Politik der westlichen Welt das Bild einer Landwirtschaft mit satelittengesteuerten Landmaschinen, welche möglichst Menschen- und Natur-unabhängig eine Ernte einfahren, die eine wachsende Weltbevölkerung ernährt.

Gleichzeitig wacht die Politik für die Themen Klimakrise, Erderwärmung, Artensterben auf.

Elektroautos, Stromsparbirnen, kurzum: technische Ermeuerungen werden gefördert, damit der CO2-Ausstoß verringert warden kann.

Daß aber gut 40% aller Treibhausgasemissionen direkt oder indirekt durch unsere Agrar- und Lebensmittelproduktion verursacht wird, darüber wird wenig gesagt. Das ist erstaunlich! Immerhin ist Ernährung der wichtigste Wirtschaftszweig.

Es gilt in der industrialisierten Landwirtschaft das Prinzip des freien Unternehmertums. Die Gesellschaft überlässt im Großen und Ganzen die Entscheidungen über Anbauweise den wenigen Bauern. Wir delegieren ganz selbstverständlich die Verantwortung für den Umgang mit Böden, Pflanzen und Tieren. Wir geben die Verantwortung ab.

Das Maß aller nachhaltigen Entwicklung ist die Landwirtschaft

Im Jahre 2003 initiierten die Weltbank und die Vereinten Nationen einen bisher einmaligen internationalen wissenschaftlichen Prozess der als Weltagrarbericht (www.weltagrarbericht.de) bekannt wurde. Über 400 Expertinnen und Experten aller Kontinente und Fachrichtungen arbeiteten vier Jahre intensiv daran, gemeinsam die folgende Frage zu beantworten: „Wie können wir durch die Schaffung, Verbreitung und Nutzung von landwirtschaftlichem Wissen, Forschung und Technologie Hunger und Armut verringern, ländliche Existenzen verbessern und gerechte, ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltige Entwicklung fördern?"

 

Eine enorme Wissens-Sammlung kam zustande. Das Fazit war eindeutig: “das Maß aller nachhaltigen Entwicklung ist die Landwirtschaft”.

 

Und kurz vor Verabschiedung einer gemeinsamen Abschlußerklärung, worin deutlich gestellt wird, daß eine nachhaltige Landwirtschaft durchaus in der Lage wäre, die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, verließen die Vertreter der Agro-Industrie das Projekt.

 

Mit aller Macht treiben die Großkonzerne die Beherrschung der Wachstums-Prozesse im Pflanzenbau mit den Mitteln der naturverachtenden  sogenannten “Grünen Revolution” voran(6). Eine rezente Aussage eines Monsanto-Mitarbeiters:

„Wir können nun einen seriösen Pfad in eine nicht-allzu-ferne utopische Zeit erkennen, in der sich ‚see and spray‘-Fungizide, Mikroben und natürliche Unkrautbeseitigung in Kombination mit selektiven und nicht-selektiven Herbiziden einsetzen lassen, um jede Pflanze einzeln zu pflegen.“ (5)

 

Die Strategien für eine Agri-Kultur welche sich verwandelt von einer klimaschädlichen Hauptfaktor zu einen Wirtschaftszweig der CO2 aufnimmt und festlegt, statt aus zu stoßen, liegen vor.

 

Die globale Entwicklung der Landwirtschaft wird aber von den Austeigern aus dem Projekt der UN bestimmt: Gen-Saatgut-Firmen, Chemie-Industrie, Landmaschinen-Firmen, Digitalisierungs-Unternehmen. Und es ist keine Instanz oder Institution in Sicht welche diese verheerende Fehlentwicklung aufhalten kann.

Der Schlüssel einer nachhaltigen Entwicklung der Agrar-Kultur ist der Mensch

Oh doch! So lautet die Botschaft, welche vor hundert Jahren Hazrat Inayat Khan uns brachte. Es gibt diese Instanz. Sie heißt Mensch. Das Maß einer nachhaltigen Entwicklung der Agrar-Kultur ist der Mensch.

Damit war er einer der Botschafter eines neuen Zeitalters, das aktuell im Rahmen der Klima-Diskussion zunehmend mit dem Begriff Anthropozän gekennzeichnet wird.

 

Wikipedia: “Der Ausdruck Anthropozän (zu Altgriechisch ἄνθρωπος Mensch und καινός neu) ist ein Vorschlag zur Benennung einer neuen geochronologischen Epoche: nämlich des Zeitalters, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist.(3)

 

Eine manchmal belächelte Aussage des Sufi-Meisters, dass Naturkatastrophen, inkl Erdbeben und Dürren, das Ergebnis von menschlichem Einfluss seien, bekommen unter der Überschrift Anthropozän eine neue Aktualität. Schon vor hundert Jahren stellte er sich radikal gegen eine Verkennung der Verantwortung des Menschen für die Verfassung der Welt.

 

Über diesen “Anthropos” sagt Hazrat Inayat Khan: “In jeder Schrift wird erwähnt, dass der Mensch das Ideal der Schöpfung sei. Im Koran wird gesagt: “wir haben den Menschen zum Kalif der ganzen Schöpfung gemacht”, in anderen Worten, den Meister der Schöpfung. Desto tiefer wir das Leben studieren, desto klarer sehen wir dass das Leben in all seinen Aspekten, in all seinen Namen und Formen ununterbrochen auf die Ebene des menschlichen Wesens hinarbeitet und dabei dem Menschen dabei hilft, das Instrument von Gott zu werden.” (4)

 

Meister der Schöpfung: was heißt das?

Wir hatten gesehen, dass für die Agrar-Industrie Pflegen heißt: dafür sorgen, dass durch chemische und mechanische Eingriffe die Entwicklung der angebauten Pflanzen gewinnbringend verläuft.

 

Das ist natürlich ganz was anderes als Pflegen im Sinne von „Sich sorgend um etwas kümmern, sehr häufig um einen anvertrauten Menschen“ (Wiktionary) Nur wenn wir uns bewusst werden, dass alle Lebewesen auf dem Acker uns anvertraut wurden, können wir behaupten, dass wir die Erde und ihre Pflanzen pflegen oder kultivieren. Erst dann können wir von Agri-Kultur sprechen.

 

So wie wir heute weltweit einen erneuten Rückschlag in der Bereitschaft, sich um andere zu kümmern, statt nur die eigenen Interessen voran zu treiben, feststellen können, so stellte Hazrat Inayat Khan schon Anfang des 20. Jahrhunderts fest, dass die Menschheit zurückfällt.

 

Trotz aller Kultur und Fortschritt fällt die Menschheit zurück. Und dieser Verlust liegt in der Abwesenheit von wahrem Idealismus. Es ist ein Schatten des Idealismus, welche den Menschen herunterzieht. Der wahre Idealismus ist eine Leiter, die den Menschen hilft, das Ziel zu erreichen, wozu die Welt geschaffen wurde. [...] Ein Mensch, der unbewusst ist von dem edlen Geist, der in ihm wohnt, bleibt arm trotz all seiner Reichtum und Position.“

 

Wie arm wir werden, wird erst allmählich deutlich. Wir verlieren in zunehmender Geschwindigkeit den Planeten Erde, welcher uns bisher getragen hat.

 

Und hiermit sind wir bei dem Dreh- und Angelpunkt des universalen Sufismus: die Kultivierung der Herz-Qualität. Nur wenn der Mensch sein Herz kultiviert, kann er auch den Acker kultivieren. Nur wenn er sein Herz öffnet, kann er die ihm anvertraute Schöpfung pflegen.

 

Hazrat Inayat Khan erklärt folgendermaßen, warum eine wissenschaftliche UN-Kommission, wie oben erwähnt, zwar alle Fakten für eine Wende in der Landwirtschaft auf den Tisch bringt, damit aber keine Wende in Gang setzen kann: Heut zu Tage muss eine Person Prüfungen ablegen und so lange sie ein Titel hat, denkt sie, dass sie sicher ist; denkt sie, dass sie in die Welt gehen kann und Erfolg haben kann. Aber eine solche äusserliche Qualifikation ist nicht genug. Es ist die innere Qualifikation, die innere Kultur, die zählt, und diese kann nur durch Entwicklung der Personalität erworben werden.

 

Eine neue Agrikultur braucht eine neue innere Kultur des Menschen, welche es uns ermöglicht, die Natur und uns selbst als Immanenz von Gott zu erleben und zu behandeln.

 

Man kann sich fragen, ob Pflanzen und Tiere, Berge und Flüsse auch eine Existenz, sei es im Ansatz, sei es eindeutig individuell, auf den höheren Ebenen haben, so wie menschliche Seelen dies tun.

 

Alles was auf der irdischen Ebene existiert, hat auch seine Existenz auf den höheren Ebenen; aber was ist individuell?  Jedes Wesen und jedes Objekt das eindeutig auf sich steht, kann eine Entität genannt werden, aber was man ein Individuum nennt ist ein Konzept unserer Imagination; und die wirkliche Bedeutung dieses Konzeptes wird an dem Tag realisiert werden, wenn die endgültige Wahrheit ihr Licht auf das Leben wirft. An dem Tag wird niemand über Individualität sprechen; man wird “Gott” sagen und sonst nichts.

 

Es gibt viele Wesen, aber gleichzeitig gibt es Eins, das Einzige Wesen. Deswegen leben Objekte wie Flüsse und Berge zwar, aber sie existieren nur getrennt in unserer äusseren Vision. Wenn unsere innere Vision sich öffnet, stellt sich die Trennung als Schleier heraus; dann gibt es nur eine einzige Vision und das ist die Immanenz von Gott.

 

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Die kursiv gedruckte Passagen sind Zitate aus den Volumes von Hazrat Inayat Khan in meiner nicht authorisierten Übersetzung.

 (1) Die Jahreszahl stammt aus “Recollections of Inayat Khan and Western Sufism by Theo van Hoorn, Translated, Annotated and introduced by Hendrik J. Horn”. Leider fehlt in den Kommentaren von Herrn Horn jedes Verständnis für den Ziraat-Impuls.

(2) In dem Buch von Peter Selg, Koberwitz, Pfingsten 1924, (Rudolf Steiner Verlag, 2009), wird sehr ansprechend beschrieben, wie ein anderer Meister Anfang des 20. Jahrhunderts mit seinen Schülern an dem Thema Landwirtschaft arbeitete.

(3) Für die wissenschaftliche Beweisführung und theoretische Ausarbeitung des Begriffs Anthropozän sei das Buch des australischen Ethik-Professors Clive Hamilton, Defiant Earth, Polity Press 2017, wärmstens empfohlen.

(4) siehe mein Essay “the crown of creation”: www. unitednature.eu

(5) aus FIAN-Newsletter Oktober 2018, Blocking the chain)

(6) Wikipedia: Die Folgen der Grünen Revolution sind international umstritten. Auf der einen Seite verbesserte sie die Ernährungssituation vieler Menschen erheblich, insbesondere in Asien. Auf der anderen Seite sind gravierende Umweltschäden in vielen Ländern zu verzeichnen, weil die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion in erster Linie durch Vergrößerung der Anbauflächen, schnellere Staffelung der Ernten und um den Preis eines massiven Pestizideinsatzes erfolgte. Kleinbauern wurden von den industriell bewirtschafteten Flächen verdrängt und mussten Randlagen mit geringer Produktivität neu erschließen. Auch die Grundwasservorräte wurden übermäßig genutzt. Die Aufstände wegen der Lebensmittelknappheit in vielen Ländern der Erde seit ca. 2010 machen die begrenzte Nachhaltigkeit der Grünen Revolution deutlich.[