Seite 2 - Zehn Sufi-Gedanken zum Klimawandel von Firos Holterman ten Hove
4. Es gibt eine Religion, den unentwegten Fortschritt in der rechten Richtung, dem göttlichen Ideal entgegen, das den Lebenszweck jeder Seele erfüllt
In keiner Periode der menschlichen Evolution wurde der Begriff Religion greifbarer als jetzt am Anfang des Anthropozäns. Das alte Religionsverständnis bestand in dem Befolgen eines Kultes, der uns nach dem Tod in den Himmel führen würde. Die Belohnung für unsere Enthaltung würde uns dann erwarten.
Nachdem die Menschheit ganz mit dem Thema Religion abgerechnet hatte, entwickelte sie Pseudoreligionen wie z. B. den Kommunismus und den Kapitalismus, die uns erzählen, dass Leid und Unrecht notwendig sind, um eine ruhmreiche Zukunft mit Wohlsein für alle zu erreichen. Das Leiden der nicht-menschlichen Naturreiche wurde gar nicht berücksichtigt, da diese sich sowieso nicht beschwerten.
Heute hat die Natur angefangen, sich zu beschweren. Dieses Phänomen wird Klimawandel genannt. War die Natur bisher als unerschöpfliche Mutter Natur im Hintergrund, so wird sie jetzt zum Gegenüber und bereitet uns Probleme.
Wenn wir uns nicht scheiden lassen wollen (den Planeten verlassen) oder mit dem Missbrauch weiter machen wollen (wachsende Wut von der Seite unseres Gegenübers als Ergebnis) werden wir lernen müssen, wie wir mit ihr in einer Partnerschaft zusammenleben können.
In einer Welt, die unsere Geliebte wird, müssen wir herausfinden, wie wir mit ihr in Harmonie leben können. Das ist die neue Religion. Die Prozesse zwischen Mensch und Welt müssen von Liebe durchdrungen werden.
Etymologisch bedeutet Religion “fest verbinden”. Mehr als je werden wir Menschen viel Durchhaltevermögen brauchen, um mit dieser Welt verheiratet zu sein. Sufis in allen Zeiten haben sich in dieser Art Beziehung geübt. Sie nannten es die Dynamik zwischen Liebe, Liebenden und Geliebten. Hazrat Inayat Khan sprach meistens von einer ähnlichen Dreieinheit: Liebe, Harmonie und Schönheit. Mit Harmonie ist ein Zustand gemeint, in dem Liebender und Geliebte im Einklang sind. In den chaotischen Übergängen, die wir auf unserem Planeten durchleben, wird es sicher meistens nicht sehr friedlich zugehen. Wir werden unsere Konzepte von Harmonie überarbeiten müssen.
Religion wird in der neuen Zeit von jeder Menge Freiheit geprägt sein, da Liebe nicht aufblühen kann, wenn sie durch externe Gebote eingeengt wird. Welche Formen die Liebe annehmen wird, wissen wir nicht, weil wir unsere beliebte Welt nicht kennen. Wir haben bisher schlichtweg angenommen, dass sie da ist.
Gleichzeitig wird Religion in dem Anthropozän viel mehr Treue brauchen als je zuvor, da das Verhalten der Geliebten voll unerwarteter Launen sein wird. Überschwemmungen, Erdbeben und Dürren flößen Angst ein.
Die Belohnung wird in den Worten Hazrat Inayat Khans “sowohl auf Erde als auch im Himmel” sein. Wir müssen nicht warten. Vereinigung ist in Reichweite.
Die vierte Antwort unseres Inayati-Ordens auf die Herausforderung des Klimawandels ist ein Leben in Partnerschaft mit allen Naturreichen zu führen.
5. Es gibt ein Gesetz, das Gesetz der Gegenseitigkeit, das von einem selbstlosen Gewissen zusammen mit einem erwachten Gerechtigkeitsgefühl erfüllt werden kann.
Durch alle Zeiten hindurch haben Religionen den Menschen gelehrt, wie er mit seinen Mitmenschen in Harmonie umzugehen habe. Allerlei Vorschriften wurden gegeben, die sich alle um eine generelle spirituelle Wahrheit drehten, von Hazrat Inayat Khan aus der Bibel zitiert: „Liebe Deinen Nächsten, wie Dich selbst.“
Im Gegensatz zu dieser uralten Wahrheit ist der Motor hinter der globalen ökonomischen Entwicklung das Verfolgen des Eigen-Interesses. Nichts schien diese Macht aufhalten zu können. Ja, sie wurde in der westlichen Welt von den Gewerkschaften ausgebremst, die die Interessen der Arbeiter vertreten. Ja, es gab und gibt auch Überlegungen über die Umwelt. Aber im Zentrum des Gewinnstrebens steht nach wie vor das Eigen-Interesse.
Nun, Hazrat Inayat Khan lehrte uns, dass in dem Verfolgen des Eigen-Interesses der Mensch den Kontakt zu seinem wirklichen Interesse verliert. Weil, so führt er aus, “es ist das Gesetz der Gegenseitigkeit, das uns davor bewahrt, den höheren Mächten ausgesetzt zu werden, genauso wie ein rücksichtsvoller Mensch weniger die Gefahr läuft, vor dem Gericht zu landen.”
Aber jetzt ist es zu spät: Die “höheren Mächte” sind aufgewacht. Geologen würden diese die tieferen Mächte der Erde nennen. Plötzlich entdecken wir, dass das Erdsystem dereguliert wurde und dass wir den Reaktionen dieses Systems ausgesetzt sind. Die Erde “schlägt zurück”. Scheinbar hat noch ein anderes altes Gesetz seine Gültigkeit bewahrt: “Auge um Auge, Zahn um Zahn.” Die Menschheit wird einsehen müssen, dass die Lebensumstände für alle Wesen auf unserem Planeten irreparabel verschlechtert wurden. Wir werden anerkennen müssen, dass die Gefahr des Aussterbens der menschlichen Spezies nicht länger undenkbar ist.
Das Leben gab uns endlich den Beweis für das Gesetz der Gegenseitigkeit. Bisher war es eine Frage des Glaubens, heute ist es eine Tatsache. Wir handeln nicht in unserem wirklichen Interesse, wenn wir ungehemmt unsere Freiheit und unsere technischen Möglichkeiten nutzen. Letztendlich ist es in unserem Interesse, ein Gefühl für wirkliche Gerechtigkeit zu entwickeln. Und dazu werden wir eine Menge Vorurteile über unsere sogenannte Rechte über Bord werfen müssen. Es ist eine Frage des Ent-Lernens, mehr als eine des Lernens. Jedes menschliche Wesen, so sagt der Sufi-Meister, ist mit einem inneren Gefühl für Gerechtigkeit geboren. Es ist schlichtweg eine Frage des Entfernens der Überlagerungen, wenn man dieses natürliche Urteilsvermögen erreichen will.
Die fünfte Antwort unseres Inayati Ordens auf die Herausforderung des Klimawandels ist, die Wirkungen des Gesetzes der Gegenseitigkeit aufzuzeigen und uns selber und anderen dabei zu helfen, unseren eingeborenen Sinn für Gerechtigkeit zu entdecken.
6. Es gibt eine Familie, die Menschheitsfamilie, die unterschiedslos die Erdenkinder vereint in Gott, dem Vater und der Mutter.
Was hat Hazrat Inayat Khan gemeint, als er von „Erden-Kinder“ sprach?
Unterschiedliche Erklärungen treffen zu:
Klimawandel lässt im Menschen die Wahrnehmung entstehen, dass die Erde unter seinen Füßen bröckelt. Dabei gibt es keinen Unterschied zwischen Nord, Süd, Ost und West. Es ist eine globale Wahrnehmung.
Die Panik und Ratlosigkeit wegen des Klimas fällt unterschiedlich aus. Diejenigen, die behaupten, nicht von den Klima-Katastrophen betroffen zu sein, versuchen, ihr Stückchen Erde gegen diejenigen zu verteidigen, die erleben mussten, dass ihr Boden nicht länger da ist oder sie nicht länger ernähren kann.
Die erste Gruppe greift zurück auf die Verteidigung ihres National-Staates. “Wir gehören nicht zur selben Welt wie ihr. Eure Welt mag bedroht sein, unsere nicht!”
Die zweite Gruppe hat nichts zu verlieren und hämmert an den Türen der Reichen, dabei oftmals ihr Leben riskierend.
Wie können wir unter solchen Umständen ein gemeinsames Leben für die Menschheit entwickeln? Der einzige Ausweg ist, zusammen herauszufinden, welche Erdstriche bewohnbar sind und mit wem wir diese teilen wollen. Millionen von Fremden werden auf ihrer Suche nach einem sicheren Stückchen Erde Begleitung brauchen. Wir werden ein gemeinsames Leben für die Menschheit aufbauen müssen. Also: Nichts ist innovativer und weniger nostalgisch als Vereinbarungen zu treffen, wie und wo Migranten “landen” können.
Diese Suche übersteigt jeglicher Bindung zu Familie, Nation, Religion. Jedes Erden-Kind wird sich die Frage stellen müssen, mit wem/wer er/sie diese Erde teilen möchte.
Hazrat Inayat Khan lehrt, dass der Mensch sich nur entwickeln kann, wenn er sich mit einem anderen vereinigt.
Im Anthropozän ist diese Einheit nicht länger nur für einige Wenige das Ziel, sondern wir sind dabei, herauszufinden, dass alle Lebewesen zusammen für das Überleben des Einzelnen notwendig sind. Alles ist mit allem verbunden und nur wenn wir diese Tatsache anerkennen, werden wir in der Lage sein, auf der Erde zu leben.
Die 6. Antwort unseres Inayati-Ordens auf die Herausforderung des Klimawandels ist, zu wissen und zu zeigen, wie erfüllend es ist, unser Stückchen Erde mit anderen zu teilen.